Berliner Sparkurs ist eine ernste Gefahr für die soziale Infrastruktur und den Zusammenhalt in unserer Stadt / vgl. Brief der Bezirksbürgermeister:innen vom 20. Juni 2023
Als Mitglied des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes unterstützt die Kaspar Hauser Stiftung diesen Offenen Brief der LIGA Berlin, der dazu beitragen soll, Kürzungen im Sozialbereich bei den derzeitig laufenden Haushaltsberatungen im Land Berlin zu verhindern.
An die
Mitglieder des Senats
und Fraktionen des Abgeordnetenhauses von Berlin
Sehr geehrte Damen und Herren,
wir beraten und begleiten die Vorbereitungen zum nächsten Landeshaushalt intensiv. Wir sehen die dringende Notwendigkeit einer klärenden Wortmeldung: Die aktuellen Haushaltsplanungen des Landes laufen auf Kürzungen der sozialen Angebote hinaus, sie bewirken das Gegenteil der in den Koalitionsvereinbarungen angekündigten flächendeckenden Stärkung der freien Träger sozialer Hilfen. Nur mithilfe der nicht-staatlichen Einrichtungen der Sozialverbände ist die soziale Versorgung im Land Berlin gewährleistet! Der Brandbrief der Berliner Bürgermeister:innen vom 20. Juni spricht eine deutliche Sprache: Das erste Opfer des Sparkurses ist die soziale Infrastruktur. Sämtliche Ansprüche an eine funktionierende Stadt würden so ausgehöhlt. Wir können nicht zulassen, dass durch Sparvorgaben elementare sozialpolitische Notwendigkeiten ignoriert werden. Dieses Vorgehen bedeutet auf Dauer die soziale, wirtschaftliche und politische Bankrotterklärung für Berlin.
Keine Mitarbeitenden zweiter Klasse
107.000 Hauptamtliche und 53.000 ehrenamtlichen Mitarbeitende der Freien Wohlfahrtspflege halten die soziale Infrastruktur in Berlin am Laufen. Sie geben Tag für Tag ihr Bestes in zivilgesellschaftlichen, gemeinnützigen Wohlfahrtsorganisationen von Kita bis Krankenhaus. Unsere Einrichtungen sind dabei frei von Profitstreben. Ihre einzige Verpflichtung ist der nachhaltige soziale Zusammenhalt in unserer Stadt.
Unsere Arbeitskräfte haben sich bewusst für starke Arbeitgebermarken entschieden: AWO, Caritas, Diakonie, Paritätischer, DRK, Jüdische Gemeinde stehen für Jahrzehnte hochprofessioneller Versorgung, Beratung und eine immanente soziale Verpflichtung. Gleichzeitig wird unseren Mitarbeitenden seitens des Landes wiederholt vermittelt, Personal zweiter Klasse zu sein:
Während beispielsweise das Gehalt der staatlichen Kita-Beschäftigten durch eine Hauptstadtzulage aufgestockt wird, sind freie Träger für die Refinanzierung von Lohnsteigerungen auf die Gnade der Verwaltung angewiesen. Der Senat bevorzugt seine Angestellten und ermöglicht mit Steuergeldern, die von allen Bürger:innen gezahlt werden, den eigenen Mitarbeitenden eine bessere Vergütung. Diese künstliche Konkurrenzsituation muss beendet werden. Sie belebt nicht das Geschäft, sondern erzeugt Frustration bei den Mitarbeitenden, Bürgerinnen und Bürgern mit besonders hoher sozialer Motivation.
Es muss zur Selbstverständlichkeit werden, dass auch die Mitarbeitenden der Freien Wohlfahrtspflege einen Anspruch auf eine auskömmliche und marktgerechte Vergütung haben. Neueinsteiger werden sich zu schlechteren Konditionen nicht mehr für die Ausbildung in einem sozialen Beruf entscheiden, langjährige Beschäftigte werden ihre Tätigkeit wechseln oder frühzeitig beenden.
Die Vergütungen in der Freien Wohlfahrtspflege werden zur Arbeitskräftebindung und - gewinnung in 2024 im Schnitt um 10% steigen – ohne Aussicht auf eine angemessene Refinanzierung durch das Land Berlin. Diese Summen kann die ohnehin prekär finanzierte Freie Wohlfahrt unmöglich aus anderen Quellen kompensieren. Unsere 1.200 Initiativen und Träger werden dementsprechend 10% weniger leisten können. Ein erheblicher Einschnitt in das Berliner Sozialsystem.
Wir können dem eklatanten Arbeitskräftemangel nur gemeinsam begegnen, wenn das Land Berlin sicherstellt, dass die Freien Träger die notwendigen Gehaltssteigerungen vollständig refinanziert bekommen.
Unzureichende Finanzierung für die Erfüllung staatlicher Aufgaben
Die Berliner Bürgermeister:innen haben es deutlich formuliert: Gespart wird zuerst bei den „freiwilligen sozialen Leistungen“. Hinter diesem Begriff verbirgt sich der Großteil der Berliner sozialen Infrastruktur. Zuwendungen, die kurzfristig finanziert und in der Regel nach hohem bürokratischem Aufwandgewährt werden. Gleichzeitig liegen die in den Bezirken für 2024 veranschlagten Ausgaben für die freiwilligen soziale Hilfen um 30% unter den realen Ausgaben in 2022. Die auf Hilfen angewiesenen Bürgerinnen und Bürger können nicht darauf vertrauen, dass ihre Schuldnerberatung im kommenden Jahr noch ansprechbar ist, dass die Jugendhilfe im Notfall unterstützt, dass die Wohnungslosenunterkunft noch Obdach und Vermittlung in ein geregeltes Leben bietet u.v.m.
Nach der bezirksbürgermeisterlichen Ankündigung finanzieller Einschnitte sind die Wohlfahrtsverbände in großer Sorge, dass die soziale Infrastruktur und der soziale Frieden nachhaltig Schaden nehmen. Zumal sie seit Jahren einen dringend notwendigen Ausbau der Angebote reklamieren.
- So kann es nicht sein, dass ein zukunftsweisendes Projekt wie die 24/7-Einrichtungen für wohnungslose Menschen mit 2.000 jährlichen Anfragen völlig überfordert ist, aber ohne weitere Finanzierungszusage dasteht.
- Es kann nicht sein, dass in jedem Bezirk zehntausende Bürgerinnen und Bürger ihren Anspruch auf Sozialleistungen nicht kennen oder nicht wissen, wie er wahrzunehmen ist und die Freien Wohlfahrtsverbände um die Aufstockung von zwei (!) Vollzeitstellen pro Bezirk in der Allgemeinen Unabhängigen Sozialberatung kämpfen müssen.
- Es kann nicht sein, dass Träger von Jugendclubs für eine angemessene pädagogische Betreuung sozial benachteiligter Kinder und Jugendlicher über Jahre finanziell zubuttern müssen, um schließlich am endlos verzweigten, uneinheitlichen Zuwendungsrecht zu scheitern und schließen müssen. Während gleichzeitig deutschlandweit über Silvesterkrawalle debattiert wird, die aktuelle Koalition die Bekämpfung von Jugendgewalt in ihrem Sofortprogramm bewirbt und auf die Beschleunigung von Gerichtsverfahren setzt.
- Es kann nicht sein, dass eine auskömmliche Gemeinkostenpauschale für Verwaltung undOverheadkosten, sowie für Mieten, Material und Energie der sozialen Einrichtungen keine Selbstverständlichkeit ist und 80% der krisenbedingten Kostensteigerungen ignoriert werden.
Die Einrichtungen und Initiativen unserer Wohlfahrtsverbände agieren entsprechend des weltweit einzigartigen und über Jahrzehnte bewährten Subsidiaritätsprinzips im staatlichen Auftrag. Eine Gleichbehandlung mit staatlichen Einrichtungen entspricht den gesetzlichen Realitäten und ist zur Aufrechterhaltung der Ansprüche an ein solidarisches, friedliches Sozialsystem im Land Berlin zwingend notwendig. Außerdem braucht es auch im neuen Haushalt ein zusätzliches, unbürokratisches Budget für Zuwendungen.
In einer Zeit außergewöhnlich hoher Sozialbedarfe auf eine Politik der sozialen Kürzungen zu setzen, ist weder für die Bürgerinnen und Bürger noch für die hochqualifizierten und motivierten Mitarbeitenden nachvollziehbar. Wir hoffen weiterhin auf einen gewinnbringenden Austausch, bieten gerne unsere beratenden Kompetenzen an und verweisen auf unsere regelmäßigen und aktuellen Stellungnahmen, die auch auf www.liga-berlin.de zu finden sind.
Wir bleiben dran. Für eine Berliner Sozialpolitik, die alle Menschen mitnimmt.
Mit freundlichen Grüßen
Andrea U. Asch
Federführung LIGA der Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege im Land Berlin Vorständin Diakonisches Werk Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz